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[2000]

 


 

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LOG IN 20 (2000) Heft 2


EDITORIAL


Die Greencard-Bildungskrise



    Bildungskrisen sind in Deutschland nicht neu. Das Buch „Die deutsche Bildungskatastrophe“ von Georg Picht löste bekanntlich nach seinem Erscheinen 1964 eine breite gesellschaftliche Diskussion aus. Denn der Autor leitete vom Tatbestand eines bevorstehenden Bildungsnotstandes als direkte Folge einen wirtschaftlichen Notstand für die Bundesrepublik Deutschland ab. Dem damaligen Wirtschaftsaufschwung würde ohne qualifizierten Nachwuchs sehr schnell die Luft ausgehen, konstatierte Picht, und mit dem Versagen des Bildungswesens würde die Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. Zentrales Problem war für Picht die Zahl der Abiturienten; sie sei Maßstab für das geistige Potenzial, das wiederum die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit, das Sozialprodukt und die politische Stellung Deutschlands bestimme.
Am 23. Februar 2000 stellte Bundeskanzler Schröder anlässlich der Eröffnung der CeBIT in Hannover fest: „Es ist unbestritten, dass es einen erheblichen Mangel an IT-Spitzenfachkräften gibt. Er ist aber derzeit im Inland nicht zu beseitigen.“ Es sei eine Strategie auf vier Ebenen notwendig, so führte er aus:

    Eine Qualifizierungsoffensive für zusätzliche IT-Fachkräfte. Der Bundesanstalt für Arbeit würde hierfür eine Milliarde Mark zusätzlich bereitgestellt.
Die IT-Branche müsse die Zahl der Ausbildungsplätze in den nächsten drei Jahren auf 40000 steigern.
    Es sei notwendig, kurzfristig ausländische IT-Spitzenfachkräfte nach Deutschland zu holen, um die aktuellen Wachstumschancen in diesem Bereich zu nutzen.
Die Jugend müsse für die Aufgaben in der IT-Branche begeistert werden, denn die IT-Branche sei letztlich die Schlüsselbranche für Wachstum und Beschäftigung.

    Die Idee der deutschen Greencard war geboren. Bekanntlich ist die „GreenCard“ eine unbeschränkte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung in den USA. Sie berechtigt zum unbefristeten Wohnen, Arbeiten, Studieren und Reisen. Die Vereinigten Staaten stellen jedes Jahr nur eine bestimmte Anzahl von Greencards aus, die nach Nationalität und Beruf vergeben werden – und ohne Fürsprecher oder ein konkretes Arbeitsangebot einer Firma ist der Erwerb einer Greencard nahezu unmöglich, denn der einzig andere Weg führt über eine jährliche weltweite Verlosung.
    Und wieder sind es – wie 1964 –ausschließlich wirtschaftlich begründete Argumente, die zu einer erneuten Diskussion darüber führen, was in Deutschland falsch gelaufen sein könnte: Einerseits steht nun die Zuwanderungs- bzw. Einwanderungspolitik zur Debatte, andererseits wird – wenngleich auch mit weniger Vehemenz – in Sonntagsreden ein Umdenken in der Bildungspolitik beschworen.
    Am 18. September 2000 sagte Bundeskanzler Schröder – wieder in Hannover, diesmal aus Anlass eines D21-Kongresses – zum Thema Bildung: „Die Fähigkeit zur Nutzung des Internet wird so wichtig wie Lesen und Schreiben. […] Internet wird Allgemeinbildung!“
Wer in den letzten Jahrzehnten die Diskussion über den Einsatz von Computern im Unterricht verfolgt hat, wird wissen, dass immer wieder euphorische Phasen durch die Realität der Mittelkürzungen im Bildungsbereich abgelöst wurden. Ein Beispiel: „90% aller Studierenden sollen eine hinreichend gründliche und anwendungsbezogene Ausbildung an und mit DV-Anlagen erfahren. […] Diese Ausbildung soll der gleiche Stellenwert zukommen wie einem anderen Grundausbildungsfach.“ – Eine Forderung, die, wenn der Begriff „DV-Anlagen“ nicht wäre, hoch aktuell klingt. Sie ist nachzulesen im „EDV-Gesamtplan für die Wissenschaft im Land Berlin“ aus dem Jahr 1972 (in Worten: neunzehnhundertzweiundsiebzig!), S. 81.
Bildung und blindwütiges Sparen sind in den letzten Jahren nahezu Synonyme geworden. Wer allerdings über Bildungsmaßnahmen „nach-denkt“ sollte eigentlich „vor-denken“, denn das, was heute versäumt wird, macht sich erst in den nächsten 10 oder 15 Jahren bemerkbar. Und umgekehrt: Was sich heute als Mangel herausstellt, ist vor 10 oder 15 Jahren eben nicht politisch vorbedacht worden.
    Wie stets, wenn es um Bildungsreformen geht, ist die eigentliche Kärrnerarbeit nicht von Politikern, sondern von Lehrkräften in den Schulen anzupacken. Und dort gibt es seit mehr als 30 Jahren Kolleginnen und Kollegen, die sich engagieren, um Rechner in die Schule zu bringen. Doch kaum ein Politiker hat gesehen, welche Pionierarbeit im Unterricht bereits von ihnen geleistet und wieviel Zeit bereits von ihnen investiert wurde, um die mittlerweile immer zahlreicher werdenden Rechner-Arbeitsplätze nicht nur am Laufen, sondern auch aktuell zu halten.
Vielleicht hat die gegenwärtige Diskussion um die Greencard einen Vorteil: Sie macht deutlich, dass die Zeiten des Aussitzens von Problemen, der kurzfristigen Flickschusterei und der spontanen Pannenhilfe bei der Bildung endgültig vorbei sein sollten.


Bernhard Koerber