LOG IN Leitseite

Nach oben ] [ Editorial ] C & A ] [2000]

 


[LOG IN]


LOG IN: 18 (1998) Heft 6Editorial

Editorial


Virtuelle Realität

Immer wieder beglückt uns die Informationstechnik mit schillernden Schlagworten oder gar Konzepten, die unsere bisherige Weltsicht in Frage zu stellen scheinen. Gegenwärtig scheint sich die "Virtuelle Realität" (VR) zu einem neuen Paradigma zu entwickeln.

Nun sind virtuelle Realitäten eigentlich nichts Besonderes. Jede Form der Abbildung, die unserer Vorstellung und unserem Erleben zugänglich ist, ist eine virtuelle Wirklichkeit: Eine erzählte Geschichte, ein Stilleben oder eben ein dreidimensionales, vom Computer errechnetes Gebilde. Die besondere Faszination der vom Computer dargestellten virtuellen Realität besteht darin, daß es möglich ist, in Abhängigkeit von der Benutzerperspektive sich ändernde und direkt manipulierbare Simulationen in Originalperspektive darzustellen, also beispielsweise eine Besichtigung des Innenraums der noch nicht wiederaufgebauten Frauenkirche in Dresden. Dabei gaukeln etwa Datenbrillen dem Gehirn eine dreidimensionale "Welt" vor, am Körper angebrachte Sensoren über-mitteln Bewegungsdaten an einen Rechner; die Ortsveränderung wird berechnet und wieder dargestellt.

Auffällig ist, daß unsere Raumwahrnehmung durch die heute vorhandenen virtuellen Realitäten nicht überschritten wird. Die Bildschirmbrillen zeigen meist zentralperspektivisch angeordnete Räume; somit hat die virtuelle Realität immer noch sehr viel mit den realen Räumen zu tun. Sie simuliert künstliche Welten, weshalb es auch leicht möglich ist, sie ökonomisch sinnvoll einzusetzen und zum Beispiel architektonische Planungsstudien im virtuellen Raum vorzunehmen.

Kann Virtualität an die Realität herankommen oder sie in bestimmten Gebieten und in bestimmten Problemfeldern sogar übertreffen? Möglich scheint es zu sein. Mit der faktischen Realität einer technischen Beschreibung oder einem Lernvideo läßt sich in der Praxis nicht viel anfangen. Eine interaktive CD hingegen kann in die Praxissituation hineinversetzen und die Realsituation virtuell simulieren – in der Realität lassen sich dann Handlungen relativ schnell umsetzen.

Die virtuelle Realität scheint optimale Trainingsmöglichkeiten zu bieten. Schulen und Universitäten sind auch "Trainingseinrichtungen", in denen Schüler und Studenten die Wirklichkeit simulieren sollen, die für sie künftig zu bewältigen ist.

Via Internet können viele Personen in diese Simulation einbezogen werden. Weniger Präsenz-Lernveranstaltungen zugunsten von On- line-Lernen (über das Internet) und Offline-Lernen (über z.B. CD-gestützte Lerneinheiten) könnten sich als möglicherweise nicht für alle Lehrkräfte erfreuliche Konsequenzen einer solcher Entwicklung ergeben.

Im Computer errechnete Umwelten werden nur dann zu besserem Lernen führen, wenn sie den Verstehensprozeß beschleunigen oder zu genaueren und vollständigeren Gedächtnisrepräsentationen führen. Aus psychologischer Sicht ist daher wichtig festzustellen, wie dreidimensionale, lebensgroß erfahrbare Lernwelten auf Lernprozesse einwirken.

Wie kann die Verarbeitung dreidimensionaler Rauminformationen gezielt für den Wissenserwerb eingesetzt werden? Erklärungen auf psychologischer Basis liegen hier noch nicht vor. Wahrscheinlich ist es aber, daß ein altes pädagogisches Prinzip auch für die virtuelle Realität gilt: Ein Sachverhalt wird um so leichter und besser gelernt, je stärker und angemessener er sinnlich erfahrbar wird. Es kann auch beim Lernen in virtuellen Realitäten nicht darum gehen, möglichst realistische und vollständige Inhalte anzubieten, sondern nur darum, die Darstellung auf wesentliche Aspekte zu beschränken. Es können Lernmöglichkeiten entstehen, die von anderen Medien nicht geboten werden: Man kann mit dem Lehrstoff spielen, ihn umgestalten oder neu entwerfen. Natürlich bleiben immer die von den Systementwicklern gesetzten Grenzen.

Die klassischen Schulbuchverlage haben den neuen Markt schon entdeckt, zunehmend werden in neue Lehrmittel elektronische Hilfsmittel und Lernprogramme integriert. CD-ROMs als Datenträger erweitern das Medienangebot der Schulen durch eine Fülle von gespeicherten Daten, auf die Schülerinnen und Schüler einen direkten Zugang haben.

Die nächste Entwicklungsstufe des multimedialen Lernens ist schon im Aufbau: Lernumgebungen, virtuelle Klassenzimmer oder Fernuniversitäten entstehen im Internet.

Sinnvoll für Bildungseinrichtungen scheint es auch zu sein, sich auf universalistischere Bildungsschwerpunkte zu konzentrieren. Im Pflicht-schulbereiche sollte anstelle der Vermittlung von Faktenwissen eher ein Kritikbewußtsein ausgeprägt werden. Zunehmend wichtig wird ein umfangreiches Methodenwissen darüber, wie die Inhalte kritisch analysiert, reflektiert und daraus ein Orientierungswissen generiert werden kann.

Bei aller Begeisterung für das technisch Mögliche darf auch das reine Erlebnis, das Zuschauen und die ursprüngliche Freude an der realen Welt nicht zu kurz kommen. Der Blick von einem Berg nach dessen mühsamer Ersteigung oder der Spaziergang durch einen Wald kann ein umfassenderes Erleben und Verstehen bedeuten, als in einem Lehrbuch oder einem Multimedia-Lexikon zu stöbern. Virtuelle Realität und Multimedia werden mit der Absicht des Darstellens, Auswählens und Wertens entwickelt – ein unmittelbares Erlebnis aber sind sie damit nicht mehr.

Jürgen Müller