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[2000]

 


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LOG IN 20 (2000) Heft 6

 

Deep Computing

 

    Im Folgenden werden die Analysen, Ideen und Prognosen von Louis V. Gerstner, dem Vorstandsvorsitzenden (Chairman of the Board and Chief Executive Officer) der International Business Machines Corporation (IBM), Armonk, NY (USA), mit freundlicher Genehmigung der IBM Deutschland GmbH dokumentiert. Die Texte stammen aus den der Presse zur Verfügung gestellten Reden Gerstners anlässlich der Eröffnung der CeBIT 1998 in Hannover und der E-Business Conference Expo in New York im Dezember 2000. Sie sind für LOG IN redaktionell überarbeitet und aktualisiert worden.

 


 

Die Zeichen der Zeit

    Computer stehen oft im Vordergrund aktueller Diskussionen, denn ihre Technologie fasziniert, ist atemberaubend und durchdringt alle Aspekte unseres Lebens:

  • Es werden heutzutage weltweit mehr PCs verkauft als Fernseher oder Automobile.
  • In jedem Automobil der gehobenen Klasse stecken mindestens 20 bis 30 Mikroprozessoren – das ist mehr Rechenleistung als die Landefähre der ersten Astronauten auf dem Mond besaß.
  • Bereits 1997 wurden weltweit fünfmal so viel Nachrichten per E-Mail verschickt wie Briefsendungen – insgesamt 2,7 Billionen E-Mails.

    Die Entwicklung lässt sich auch anders veranschaulichen:

  • Mitte der 70er-Jahre kamen die ersten Supercomputer auf – sie konnten 100 Millionen Rechenoperationen pro Sekunde ausführen. Sie kosteten damals etwa eine Million Dollar.
  • Die Laptop-Computer, die Collegestudenten heute in ihrem Rucksack mit sich herumtragen, sind dreifach so schnell wie jene Supercomputer und schon für unter 2000 US-Dollar zu haben.

    Der Trend in der Datenspeicherung ist gleichermaßen beeindruckend. Zu Beginn der 80er-Jahre kostete die Standard-Speichereinheit eines Computers – ein Megabyte – rund 100 US-Dollar. 1998 waren es nur noch zehn Cent, und heute ist der Preis auf unter 2 Cent gefallen.
    Diese Zugewinne wurden ermöglicht durch kontinuierlichen Fortschritte bei der Unterbringung von Informationen auf immer kleinerem Raum.

  • Wenn die derzeit größte Bibliothek der Welt, die Bibliothek des amerikanischen Kongresses, ihren Bestand von über 17 Millionen Büchern und über 100 Millionen sonstigen Veröffentlichungen um den gleichen Faktor verkleinern könnte, ließe sich die Gesamtlänge ihrer Bücherregale von 800 Kilometern auf unter 40 Meter verringern.

    Und der technologische Fortschritt geht immer weiter. Mikroprozessoren, Massenspeicher, Kommunikation, Arbeitsspeicher und alle weiteren Triebfedern der Expansion der Computerbranche werden – wie schon seit 30 Jahren – noch schneller, kleiner und preisgünstiger werden.

    Dennoch glaubt Louis Gerstner, dass am Beginn dieses neuen Jahrtausends doch bereits ein entscheidender Punkt innerhalb der Evolution der sehr jungen und in gewisser Weise noch sehr unreifen Computerindustrie erreicht worden ist. Und zwar deshalb, weil diese Technologie inzwischen so leistungsfähig und weit verbreitet ist, dass ihre Auswirkungen auf die Menschen, die Wirtschaft und die Regierungen alles bisher da Gewesene in den Schatten stellen.
Nach Ansicht Gerstners stehen zwei Trends im Mittelpunkt und sind besonders beachtenswert.

 

 


 Deep Computing

 

Das Einbringen von Wissen

    Der erste Trend betrifft das, was als "Deep Computing" bezeichnet werden kann. Dieser Begriff ist abgeleitet vom Schach spielenden Supercomputer "Deep Blue", mit dem sich, wie die meisten der Leserinnen und Leser von LOG IN bestimmt wissen, 1997 der damalige Weltmeister Garri Kasparow gemessen hat (s. LOG IN Heft 2’97, S. 71-72).

    Deep Blue kann pro Sekunde bis zu 200 Millionen mögliche Züge berechnen. Aber mit Geschwindigkeit allein war es nicht getan. Schließlich war auch der Vorgänger von Deep Blue schon sehr schnell, musste sich ein Jahr vorher aber gegen Kasparow geschlagen geben. Was beim zweiten Mal den Unterschied ausmachte, war die Einbringung von Wissen – menschlichem Schachwissen – Abertausende von Zügen, Schachpartien und Ergebnissen, die erfasst und mit Algorithmen verknüpft wurden. Auf dieser Basis war Deep Blue in der Lage, die Denkweise des menschlichen Geistes zu kopieren – er spielt in Sekundenschnelle millionenfach Figurenstellungen durch und filtert die besten heraus. Der Erfolg gab ihm Recht.

    Deep Blue steht stellvertretend für eine ganze Kategorie neu entwickelter Computersysteme, die eine extrem hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit mit hoch entwickelter analytischer Software kombinieren. Natürlich werden diese Systeme heutzutage für weit drängendere und wesentlichere Probleme als Schach genutzt.
Zwei wichtige Anwendungsbereiche sollen unter diesem Gesichtspunkt erwähnt werden.

Simulation

    Bei der Simulation geht es vor allem um die Ersetzung physikalischer Vorgänge durch digitale Modelle – die Wirklichkeit wird also innerhalb dieser leistungsfähigen Computersysteme nachgebildet.
    In der Pharmaindustrie können Reagenzgläser und Petrischalen heute durch die Computer gestützte Simulation von chemischen Reaktionen auf molekularer Ebene ersetzt werden. Die Phase der Entdeckungen und Erprobungen neuer pharmazeutischer Wirkstoffe verkürzt sich damit um Jahre.
    BMW, Fiat, Volvo, Peugeot, Citroën, Volkswagen, Saab, Mercedes – sie alle entwerfen ihre Autos auf dem Computer. Modellbauten und Mock-ups sind bereits Vergangenheit.
    Im Flugzeugbau war Dassault einer der Pioniere dieser Technologien. Boeing betrat hier Neuland und entwarf den Jumbojet 777 voll und ganz per Computer. Dieser Schritt war äußerst mutig – selbst einige der Boeing-Ingenieure hatten ihre Vorbehalte.

    Die Simulation mit dem Computer spart Zeit und Geld. Sie gibt dem Nutzer einen Wettbewerbsvorsprung. Und sie kann noch mehr leisten. So erhielt IBM 1998 vom US-Energieministerium den Auftrag zum Bau eines Supercomputers für die Simulation von Nukleartests, damit in Zukunft keine Atomtests mehr durchgeführt zu werden brauchen.

Datenerschließung

    Die zweite Form des "Deep Computing" betrifft die Datenerschließung. Teilweise wird dafür auch der Begriff "Business Intelligence" verwendet – man bezeichnet damit die Fähigkeit, wertvolle Erkenntnisse aus unüberschaubaren Informationsmengen zu gewinnen und bisher verborgene Korrelationen und Trends zu entdecken.
    Banken untersuchen das Verkaufsverhalten oder eine Reihe anderer demografischer Merkmale, um langfristig viel versprechende Kundenkreise ausfindig zu machen.
    Institutionen im Gesundheitswesen analysieren Millionen von Patientendaten nach verborgenen Krankheitssymptomen. Mit diesem Instrumentarium wird auch ein Beitrag zur Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs im Gesundheitswesen geleistet – er wird allein in den USA auf 100 Milliarden Dollar jährlich beziffert. Unregelmäßigkeiten in der Abrechnungspraxis werden nunmehr erfolgreich aufgespürt: So kam man einem Arzt auf die Schliche, der einmal pro Woche eine Behandlung abrechnete, die normalerweise nur ein- oder zweimal im Leben vorkommt.

Auswirkungen

    Bisweilen sind die von den Anwendern solcher Computer aufgespürten Muster und Zusammenhänge einfach verblüffend.
Eine Einzelhandelskette entdeckte zum Beispiel folgende Korrelation: Aus irgendeinem Grund kaufen frisch gebackene Väter Wegwerfwindeln und Bier immer beim gleichen Einkaufsbesuch. Also wird als einfache ertragsfördernde Maßnahme fortan darauf geachtet, dass Windeln und Bier nicht gleichzeitig im Sonderangebot zu haben sind.
    Die Idee, knifflige Probleme durch leistungsfähige Computer lösen zu lassen, ist keineswegs neu. Dieser Ansatz geht bis in die Anfänge der Computerbranche zurück. Der Unterschied ist, dass diese Systeme heute so preiswert sind, dass Unternehmen, Regierungen und Institutionen jeder Größe sie einsetzen können.

 


Globale Netze


E-Business als Motor der Entwicklung

    Die zweite wichtige Entwicklung innerhalb der Informationstechnologie ist höchst aktuell – der Siegeszug globaler Netze, wie etwa des Internet, das zu einer Vernetzung der Welt oder – wie manche es formulieren – zu einer vernetzten Wirtschaft führen wird.
    Heutzutage nutzen 300 Millionen Menschen das Internet. Schätzungen zufolge werden es schon bald 500 Millionen sein, vielleicht sogar 1 Milliarde. Was werden alle diese vernetzten Menschen tun? Was möchten sie gern tun?

    Noch bis vor kurzem glaubten viele, die Vermittlung von Informationen stünde im Vordergrund – Nachrichten, Wetter, Sportergebnisse, Online-Magazine (so genannte "E-zines").
Nach Ansicht Gerstners liegt das wahre Potenzial einer vernetzten Welt jedoch in der Durchführung von Transaktionen aller Art, zwischen Partnern aller Art. Beispiele:

  • Die über das Internet erzielten Umsätze innerhalb Europas werden von 34,01 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf schätzungsweise eine Billion US-Dollar im Jahr 2004 steigen.
  • Einer Studie zufolge werden sich die über das Internet erzielten Umsätze pro Jahr etwa verdoppeln – und zwar hauptsächlich zwischen Unternehmen, d.h. in den B2B-Märkten (B2B=Business to Business).
  • Das Gesamt-Geschäftsvolumen im Internet dürfte bis zum Jahr 2004 die zwei Billionen-Dollar-Marke erreichen – und dies ist eine vorsichtige Schätzung.

    Es geht dabei nicht nur ums Kaufen und Verkaufen. 1997 wurde von IBM der Begriff "E-Business" geprägt, um die Vielfalt der Möglichkeiten zu beschreiben, in denen der Kunde Mehrwert aus dem Internet gewinnen wird:

  • durch die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern innerhalb eines Unternehmens – mit dem Ziel von Verbesserungen bei der Produktentwicklung, dem Ideenaustausch, der Bildung von Teams, der Arbeitsweise usw.,
  • durch die Beziehungen zwischen einem Unternehmen und seinen Zulieferern, Distributeuren und Händlern, mit dem Ziel erhöhter Geschwindigkeit und Effizienz usw.,
  • und durch die sehr wichtigen Beziehungen zwischen Regierungen und Bürgern, Lehrenden und Lernenden, Gesundheitsdiensten und ihren Patienten.


Wir stehen erst am Anfang

    Das Jahr 2000 wird allen Beteiligten allerdings im Gedächtnis bleiben als das Jahr, in dem der Stern der dot.com-Unternehmen sank und damit auch der unbedingte Glaube an den Erfolg der neuen Medien. Wer nicht "dot.com" war, gehörte zum Alten Eisen. Zwar wurden wir Zeugen der Faszination der B2B-Märkte und der E-Marktplätze – doch leben viele von ihnen mittlerweile nur noch in Pressemitteilungen weiter. Und erst vor ein paar Wochen fragte die New York Times, ob es so etwas wie die "New Economy" überhaupt gäbe.

    So gab es die in der Wirtschaft seit Dekaden bekannten Unternehmens-Dramen mit ihren atemberaubenden Aufstiegen und tiefen Abstürzen, nur diesmal in den Zeitraum weniger Monate gepresst.
    Jetzt werden diejenigen, die nicht in der Informationstechnik ihr Geld verdienen – und sicher auch einige, die Teil dieser Industrie sind – fragen: "Wie bitte? Sind das Internet und der E-Commerce nur Katzengold? Ähnlich der Erfindung des papierlosen Büros? Eine geheime Absprache zwischen der IT-Industrie und den Medien?
    Dem E-Business passiert jetzt genau dasselbe, was beispielsweise den Erfindern des elektrischen Stroms oder der Flugzeuge passierte: Zuerst ergreift ungezügelter Enthusiasmus die Protagonisten der neuen Technik. Ansteckender Optimismus macht sich breit. Alle Welt glaubt, dass die Gesetze der Wirtschaft neu geschrieben werden müssen, dass neuer Reichtum geschaffen werden kann und dass die neuen Industrien die alten hinweg fegen werden.

    Aber das Fieber fällt auch wieder. Und Desillusion macht sich unter denen breit, die eben noch radikal neue Geschäftsideen propagierten. Diese Phase geht auch vorbei, und es beginnt die wichtige Phase der Integration der neuen Techniken in Wirtschaft und Gesellschaft. Und genau an dieser Stelle stehen wir heute mit der Einführung des E-Business.
    Und was steckte hinter dieser Raserei? Der schmerzhafte und verzweifelte Versuch, sich als Leader beim Aufbau der New Economy darzustellen. "New Economy" das ist ein sehr interessantes Konzept. Was macht denn eine "Neue Wirtschaft" aus? Eine neue Währung – etwa E-Scheine oder E-Dollar? Werden wir – statt in den alten muffigen Kategorien wie Einkommen und Gewinn zu denken – in Werten wie "eyeballs", und "stickiness" zu werten lernen? Statt guter Geschäfte mit Kunden auf Treu und Glauben zu machen, sprechen wir von hits, clicks, page views und downloads.

    Was für eine herrliche Welt – und viele haben sogar daran geglaubt. Doch die meisten merken jetzt, dass die Wirtschaft so nicht funktioniert. Zu viele Menschen haben vergessen, dass das Internet nur eine Technologie ist. Es ist zwar ein sehr mächtiges Werkzeug, aber es hat dennoch nicht die grundlegenden Kaufgewohnheiten des Konsumenten verändert. Der will nach wie vor das Produkt sehen, prüfen und gegebenenfalls auch zurückgeben können.
    E-Business is just business! Und echtes Geschäft bedeutet schlicht und einfach – Arbeit. Und nachdem die Alchemisten des Börsenauftrittes ihre aufregende Viertelstunde hinter sich gebracht haben, müssen wir verstehen, dass wir wieder bei der harten Arbeit angekommen sind.


Auswirkungen

    Trotzdem bleiben alle diese Entwicklungen aufregend. Die wichtigsten Veränderungen und Herausforderungen liegen nicht auf dem Gebiet der Technologie (die Verbindung zum Internet ist kein Problem mehr), sondern in den fundamentalen Veränderungen in der Art des globalen Agierens.
    Die Netze haben einen nivellierenden Einfluss. Sie senken Barrieren und heben die Bedeutung traditioneller Einrichtungen – wie Geschäfte und Filialen – auf. Die Netze verwischen die Grenzen innerhalb und zwischen Unternehmen, zwischen Ländern, Kontinenten und Zeitzonen.
    Es ist gewiss nicht vermessen zu sagen, dass sich das Netz schnell zum größten, dynamischsten und unermüdlichsten Markt für Waren, Dienstleistungen und Ideen entwickelt, den es jemals auf der Erde gab.

    Natürlich hat dies gravierende Implikationen. Sie betreffen zum einen die tradierten Formen des Handels und Wandels – sie regelten bisher den Kauf, Verkauf und Vertrieb, die Weitergabe von Wissen und den Umgang miteinander. Nach Ansicht Gerstners dürfte in der vernetzten Welt fast jede dieser Konventionen infrage gestellt werden.
    Um diese These zu belegen, sollen einige Beispiele vorgestellt werden. Sie stammen aus der Erfahrung von IBM mit Tausenden von Kunden, denen bei der Nutzung des Internet geholfen wurde.
Neue Wettbewerber können heute aus dem Nichts und über Nacht auftauchen, und manchmal sogar aus einer ganz anderen Branche.

    Zum Beispiel im Hochschulbereich: Eine Universität in Kanada – die Athabasca University
(http://www .athabascau.ca/) – bietet ihre Kurse ausnahmslos als Fernunterricht an. Einen Campus mit Studenten hat sie nicht. Die gesamte Lehrtätigkeit erfolgt online. Diese Universität verfügt mittlerweile über den größten Betriebswirtschaftstudiengang für angehende Führungskräfte des Landes – und sie bedient nahezu 30 Prozent aller kanadischen Studenten dieses Faches.

    Oder im Einzelhandel: Die Essener Karstadt AG (http://www.karstadt.de/) ist die größte Warenhauskette Europas und engagiert sich auch im Online-Vertrieb. Kein ganz leichter Schritt für ein Unternehmen mit erheblichen Investitionen in Verkaufsflächen – ganz zu schweigen von den Wirtschaftsstrukturen, der Geschichte und Unternehmenskultur des Hauses, die tief in der Einzelhandelstradition verwurzelt sind.

    Regierungen nehmen, gestützt auf die Netze, tiefgreifende Veränderungen in der Abwicklung vor: vom Einkauf der Waren und Dienstleistungen bis hin zu Informationsdiensten für die Bevölkerung.

  • In Singapur sind über 10000 Zulieferer online verfügbar (http://www.tdb.gov.sg/). Das Resultat sind reduzierte Arbeitskosten und eine erhöhte Effizienz.
  • Und wenn im südspanischen Valencia ganze Ortschaften vernetzt werden, um es den Bewohnern zu ermöglichen, Aufträge für ortsansässige Firmen zu erteilen, Termine beim Arzt zu vereinbaren oder Informationen aus der Schule der Kinder zu erhalten – und zwar alles online –, dann ist das schon eine sehr spannende Sache (http://www.ovsi.com/).
  • In den USA kann man sein Auto über das Internet anmelden – beispielsweise in Arizona – und sich so die Warteschlange bei der Behörde sparen (http:// www.dot.state.az.us/MVD/mvd.htm bzw. http://www .servicearizona.ihost.com/). Das ist schon eine radikale Veränderung.

    Ähnliche tiefgreifende Veränderungen vollziehen sich im Bankensektor, im Autohandel, in Musik und Unterhaltung, auf den Finanzmärkten oder im Versicherungssektor.
    Einer der am verbissensten geführten und unübersichtlichsten Kämpfe findet derzeit im Buchhandel statt. Führend im Online-Wettlauf ist Amazon.com. Vor sechs Jahren kannte niemand diesen Namen, weil er noch gar nicht existierte. Und selbst heute weiß kaum ein Kunde, wo dieses Unternehmen sitzt, und es interessiert ihn auch gar nicht.
    Amazon.com existiert nur im Cyberspace, ist mit über 2,5 Millionen lieferbaren Büchertiteln aber fast 15-mal größer als die weltweit größte "reale" Buchhandlung. Und noch dazu rund um die Uhr und jeden Tag geöffnet.
    Uns allen sollte jedoch klar sein, dass niemand nur Zuschauer bleiben kann. Jedes Unternehmen und jede Institution wird sich damit auseinander setzen müssen, und viele tun es bereits. Pilotprogramme werden getestet, Strategien festgelegt und Fragen diskutiert wie etwa: Welche Auswirkungen hat die globale Vernetzung auf das eigene Unternehmen? Welche Bedrohungen gibt es? Und wichtiger noch: Wie kann ich die Vorteile des neuen Mediums ausschöpfen?

    Übrigens werden die Antworten auf Fragen dieser Art ausschließlich auf höchster Managementebene erörtert und entschieden. Die Entscheidung von Karstadt, sich im Online-Vertrieb zu engagieren, wurde bestimmt nicht von einem Internet-Beauftragten getroffen. Denn die schwierigsten, heikelsten Entscheidungen gelten nicht der Wahl des Browsers oder Servers, sondern betreffen elementare unternehmerische Aspekte.
Dieser Trend wird sich mit der Zunahme der globalen Vernetzung noch verstärken.

 


Vom ,,Deep‘’ zum ,,universellen‘’ Computing

    Wo gab es vor fünfzig Jahren Elektromotoren? Sie standen nur in Fabriken und Kraftwerken, weil sie zu groß und zu teuer waren. Heute finden sich in einem normalen Haushalt zig Elektromotoren – in Haushaltsgeräten, Heizungen und im Lüftungssystem, im CD-Spieler, Videorekorder und in der elektrischen Zahnbürste. Uns ist der Kauf "elektrischer Motoren" nicht bewusst – sie gehören bei vielen Alltagsgeräten einfach mit dazu. Das Gleiche vollzieht sich in der Computertechnik.
    Chips sind so klein und preisgünstig geworden, dass sie praktisch überall eingebaut werden: in Autos, Haushaltsgeräte, Werkzeuge, Türschlösser, Kleidungsstücke. Und in zunehmendem Maße werden diese winzigen, intelligenten Bausteine in das globale Rechner- und Kommunikationsgeflecht eingewoben. Sie werden zum Bestandteil des Internet.
Was bedeutet dies für den Verbraucher und die Unternehmen?

    Ein kurzes Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie fahren auf der Autobahn. Ihr "intelligentes" Auto hat ein Motorproblem, aber statt Sie mit einer blinkenden Lampe zu warnen, wird mittels drahtloser Verbindung über das Internet eine Meldung direkt an den Hersteller gesendet. Das System beim Hersteller diagnostiziert das Problem und sendet eine Korrekturanweisung an die elektronische Steuerung Ihres Autos. Und mehr noch: Allen Modellen dieses Autos in der ganzen Welt wird die gleiche Anweisung übermittelt, ohne dass die Besitzer zuvor informiert werden müssten – eine feine Sache für die Fahrer. Und noch besser für die Automobilbauer: Leistungsdaten können sofort erfasst und an die Produktentwicklung und die Herstellung übermittelt werden. Dieses kontinuierliche Feed-back ermöglicht kontinuierliche Verbesserungen und bessere Autos. Das schafft Mehrwert für den Verbraucher. Und einen Wettbewerbsvorteil für das Unternehmen.

    Und noch ein Beispiel: Wie nur soll ein Unternehmen, das Millionen von Verkaufsautomaten in der ganzen Welt stehen hat, den Überblick darüber behalten, was sich gut und was sich schlecht verkauft, wann nachgefüllt oder der Münzautomat geleert werden muss, ohne unnütze Touren des Versandfahrers? Ein kleiner Chip in jedem Verkaufsautomaten könnte all dies überwachen und weitergeben. Und mehr noch: Durch einen eingebauten Thermostaten könnte der Automat erfahren: "Heute ist es kalt, senke den Preis um 10 Pfennig." Oder: "Heute sind es 35 Grad; den Preis um 15 Pfennig anheben."

    Und wenn sich diese hyper-vernetzte Welt – bestehend aus einer Billion verknüpfter intelligenter Bausteine – mit den oben angesprochenen Möglichkeiten der Datenerschließung verbindet, stehen wir an der Schnittstelle zwischen "universellem Computing" und "Deep Computing".
    Unternehmen und Institutionen werden mehr Daten und Informationen zusammentragen als jemals zuvor in der Geschichte – und sind zum ersten Mal in der Lage, produktiv damit umzugehen. Datenmaterial wird in Wissen verwandelt, das sofort an die richtigen Leute weitergeleitet werden kann.

    Nach Ansicht Gerstners werden die führenden Unternehmen der Zukunft in jeder Branche diejenigen sein, denen es gelingt, sich auf der Basis von Wissen im Wettbewerb durchzusetzen, das heißt durch Lernen, Anpassung und verbesserte Anwendung von Wissen.

 


Die Perspektiveder Verbraucher

    Angesichts der angepeilten Vorzüge der globalen Vernetzung für Hunderte von Millionen, ja sogar Milliarden von Menschen, stehen wir zweifellos vor einer großen Aufgabe:

  • Wir müssen etwas dafür tun, dass die Technologie in der Anwendung einfacher und "natürlicher" wird, beispielsweise durch Möglichkeiten der Spracheingabe statt durchs Tippen von Buchstaben.
  • Wir müssen uns auf gemeinsame Standards einigen – in den Bereichen Kommunikation, Sicherheit, Softwareentwicklung. Alle Verbraucher sind somit – auch nach der Meinung Gerstners – aufgefordert, alle Unternehmen dieser Branche unter Druck zu setzen: Es müssen offene Standards angeboten werden!

    Es gibt noch eine Reihe von Aspekten, deren Bedeutung über die Informationstechnologie-Industrie hinaus geht. Einige davon sind so alt wie die Menschheit, zum Beispiel die Privatsphäre. Andere sind bekannte Aspekte in neuer Größenordnung, wie etwa Sicherheit oder Steuerfragen auf dem globalen Markt des Internet.
    Die Lösung dieser Fragen setzt ein neues Maß der internationalen Zusammenarbeit voraus.

    Gerstner ist der Auffassung, dass die Mitglieder der Europäischen Union bei ihren Vorbereitungen einer gemeinsamen Währung hier mit gutem Beispiel vorangegangen sind – es ist dies vielleicht eine der wichtigsten Veränderungen seit der Konzeption des europäischen Einigungsgedanken und der Verträge von Rom. Und es ist eine Umstellung, die die wirtschaftliche Landschaft tiefgreifend ändern wird, und es allen Unternehmen künftig erleichtert, hier tätig zu sein.

    Da dieses neue Universum vernetzter Beziehungen in erster Linie globalen Charakter hat, wird auch die Verständigung über grundlegende politische Fragen ein ganz anderes Niveau erreichen – das einer abgestimmten globalen Politik.
    Zum einen müssen die Menschen preisgünstigen Zugang zu den Telekommunikationsdiensten erhalten, die sie für die Teilnahme brauchen – das bedeutet, dass die Regierungen den Wettbewerb fördern und monopolistische Strukturen aufbrechen müssen. Die entsprechenden positiven Zeichen in Europa mehren sich.
    Es ist außerdem klar, dass eine diskriminierende Steuerpolitik diesen Markt in seinem Entstehen hemmen kann. Wir müssen darauf achten, dass die elektronische Wirtschaftstätigkeit auf gleiche Weise besteuert wird wie die "reale" Wirtschaftstätigkeit – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die OECD hat sich dieses Themas angenommen, und IBM unterstützt deren Bemühungen mit Nachruck. Darüber hinaus unterstützt Gerstner außerdem die Bestrebungen, das Internet als zollfreien Raum zu erhalten. Hier stehen noch harte Auseinandersetzungen bevor.

    Als nächstes zur Sicherheit: Der Anspruch der Kunden auf sichere Verschlüsselung und die legitime Besorgnis des Staates hinsichtlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und der Durchsetzung von Gesetzen schließen einander nicht notwendigerweise aus.

    Schließlich zur Privatsphäre: Wie können wir auch in Zukunft das Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und den Vorteilen der Informationsströme in der vernetzten Welt finden? Gerstner meint, dass Lösungen aus dem privaten Sektor kommen müssen und nicht von den Regierungen – und dass es gilt, einige bewährte Prinzipien zu bewahren: Der Verbraucher hat ein Recht darauf zu wissen, wie Informationen über ihn genutzt werden. Und er sollte die Möglichkeit haben, die Verwendung dieser Informationen zu kontrollieren und darüber mitzuentscheiden.

    Gestützt auf globale Vereinbarungen, auf Zusammenarbeit und Rücksichtnahme wird es der Informations- industrie, den Regierungen und den Verbrauchern möglich sein, neue Wege zu gehen. Damit der globale elektronische Markt dynamisch und sicher wächst und damit sich die Verheißungen einer vernetzten Welt erfüllen.


Der Schritt ins neue Jahrtausend

    Wir stehen am Anfang eines neuen Jahrtausends, und es gibt wohl keinen Zweifel mehr an der Stärke der Computertechnologie. In unglaublich kurzer Zeit hat sie ein Stadium der Reife erreicht, in dem sie zunehmend Einfluss auf alle anderen modernen Technologien mit Veränderungspotenzial gewinnt.
    Vor uns entsteht etwas, das über neue Rechenmodelle oder auch die Möglichkeiten eines neuen Mediums der menschlichen Interaktion hinausgeht. Die Informationstechnologie und insbesondere die vernetzten Technologien sind das leistungsfähigste Gestaltungswerkzeug, das uns jemals zur Verfügung stand. Sie sind ein neuer Motor für reales wirtschaftliches Wachstum. Ein neues Medium, das die Art der Beziehungen zwischen Regierungen, Institutionen und den unterschiedlichsten Unternehmen neu definieren wird. Und auch zwischen den Menschen, für die diese Technologie schon heute, wie auch in Zukunft, da sein wird.

    Die äußerst leistungsfähigen Instrumente sind heute schon verfügbar. Jeder Einzelne von uns wird zu entscheiden haben, wie und wie bald wir sie nutzen werden.

 

Dokumentation und redaktionelle Bearbeitung: Bernhard Koerber