LOG IN: 19 (1999) Heft 5
Was Recht ist, sollte Recht bleiben
,,Was auch immer eine Wissensgesellschaft sein mag
Wissen beruht auf Information, und Information kann heutzutage in
unglaublicher Vielfalt erfaßt, gespeichert und ausgewertet werden. Insbesondere die mit
dem Internet verknüpften Erwartungen, hier sei das Wissen der Welt gespeichert, machen
deutlich, daß völlig neue Dimensionen des Beherrschens oder auch Nicht-Beherrschens von
Techniken dieser Art die Zukunft einer Gesellschaft bestimmen.
Wir haben eine auf das Äußerste hochentwickelte Kultur,
so stellte der Soziologe H.E. Barnes bereits in den 40er Jahren fest, mannigfaltiger
und weit wirksamer als je zuvor. Trotzdem sind die Einrichtungen und das soziale Denken,
durch welche wir diese materielle Kultur zu kontrollieren und auszubeuten suchen, ein
antiquiertes Mosaik, ein Sammelsurium aus Relikten von der Steinzeit bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts. Diese Diskrepanz in der Entwicklung und Ausprägung verschiedener
Kultur- elemente einer Gesellschaft dem wissenschaftlich-technischen
Erkenntnisstand einerseits und den soziokulturellen Institutionen andererseits
wurde 1922 von W.F. Ogburn 1922 erstmalig als cultural lag beschrieben. Das
Nachhinken der gesellschaftlichen Normen und Wertangleichungen verdeutlicht ein
Unvermögen, technische, heutzutage vor allem informationsverarbeitende Prozesse zu
begreifen und zu beherrschen. Das erste Urteil, das gegen den ehemaligen Chef von
CompuServe Deutschland, Felix Somm, am 29. Mai 1998 gefällt wurde, ist zu einem Beispiel
solchen Unvermögens geworden: Ein Internet-Dienstanbieter wird für Inhalte
verantwortlich gemacht, die mit diesem Medium nur transportiert worden sind.
Das Wort Recht stammt aus dem germanischen
reht, was so viel wie gerade oder auch richtig
bedeutet; Wurzel des Wortes ist das indogermanische reg im Sinn von
aufrichten. Und mit dem Recht sollen verbindliche Regelungen des
sozialen Lebens einer Gesellschaft geschaffen werden, um daraus Befugnisse für den
einzelnen ableiten zu können.
Bereits beim Aufkommen der mechanischen Vervielfältigung von
Information auf Papier durch die beweglichen Lettern Gutenbergs traten neue auch
rechtliche Probleme auf: Mit der nun für damalige Verhältnisse einsetzenden
Informationsflut kam es zu Problemen, die auch heute noch mit der Vervielfältung von
Information verbunden sind; der Schutz der Urheberrechte ist dabei nur ein Aspekt. Formen
heutiger Computerkriminalität, wie beispielsweise das Fälschen und Ausspähen von
Information, waren in damaligen Schreiber- und Druckerstuben gang und gäbe.
Der Einsatz von Computern oder besser:
Informatiksystemen wirft jedoch neuartige rechtliche Fragen auf, die
vor allem darauf beruhen, daß das Erfassen, Speichern und Auswerten von Information in
einer bislang nicht gekannten Fülle und Schnelligkeit betrieben werden kann und im
Internet keine Landesgrenzen mehr gelten. Eigentlich sollte die wirtschaftliche
Globalisierung diejenige der soziokulturellen Institutionen nach sich ziehen, dazu
gehören ethische Prinzipien und das produktive Auseinandersetzen mit Wertvorstellungen,
aber auch Rechtssicherheit. Die Grundlage des Tradierens solcher Prinzipien ist die
Schule, an deren Bildungsinvestitionen die Bereitschaft einer Gesellschaft gemessen werden
kann, inwieweit sie ihre Zukunft gestalten will.
Wenn Peter Rechenberg in LOG IN feststellt, das meiste im Internet sei
Müll, Schrott, Abfall, und das Wertvolle ließe sich nicht davon unterscheiden (Heft
299, S. 31), dann stecken darin etliche Körnchen Wahrheit. Und der Münchener
Amtsrichter, der Felix Somm verurteilte, verwies mit Eifer auf solche Ansichten. Doch wie
sieht es heute an einem Zeitungskiosk am Bahnhof aus? Auch hier könnte dasselbe
festgestellt werden. Nicht das Medium erzeugt den Abfall, sondern diejenigen erzeugen ihn,
die ihn mit ihrem Wissen produzieren und von denjenigen bestärkt werden, die den Abfall
konsumieren. Sonst müßte jeder Zeitungsverkäufer, ja jeder Briefträger auch für die
Inhalte verantwortlich sein, die er überbringt. Bildung und Ausbildung haben dabei
natürlich die Aufgabe, wie Baumann im Heft 3/499, S. 33, erwidert, Schülerinnen
und Schüler zu befähigen, das Wertvolle vom Wertlosen unterscheiden zu können.
Im vorliegenden Heft soll ein Stück des cultural lag
aufgearbeitet werden: Vor allem die Neuartigkeit und Vielfältigkeit des Internet haben
den Eindruck verstärkt, hier entstünde ein rechtsfreier Raum, wie überhaupt beim
Globalisierungsprozeß keine Grenzen der Ethik und der Wertvorstellungen mehr gelten. Auch
an dieser Ansicht mag ein Körnchen Wahrheit zu finden sein. Doch letztlich zeigt sich,
daß mit dem Zusammenleben von mehr als sechs Milliarden Menschen in einem globalen
Dorf die Zusammenhänge der einzelnen soziokulturellen Faktoren komplizierter
geworden, aber nichtsdestoweniger durchschaubar geblieben sind dies transparent zu
machen, ist immer noch eine Aufgabe der Schule.
Bernhard Koerber
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